1937 Justiz- und Polizeidirektoren mit gefangenem EJPD K
1937 Justiz- und Polizeidirektoren mit gefangenem EJPD
Am 10. und 11. September 1937 findet die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren in Liestal statt. Knapp fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des neuen Strassenverkehrsgesetzes sind auch hier, unter Traktandum 4 «Über den Stand der Durchführung des Bundesgesetzes über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr», die Fahrradkennzeichen wieder ein Thema. Noch immer sind die kantonalen Direktoren mit der Situation nicht zufrieden. Wie heikel das Thema ist, bringt auch die hier von Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD neu eigeführte Begriffskreation «Kontrollzeichen» zum Ausdruck. Alles was mit «Nummer» zu tun hat wird zum Tabu. Nachstehend ein paar Auszüge aus dem Bericht und der Diskussion zum «Kontrollzeichen» Satus Quo.
Die Zahl der Verkehrsunfälle und der Verkehrstoten nimmt dramatisch zu (1936: 629 Tote / 2022: 241 Tote) [LINK]. Aus dem Referat von Dr. H. Rothmund, Chef der Polizeiabteilung des EJPD, erfahren wir, dass im Jahr 1936 erstmals bei mehr als der Hälfte aller Verkehrsunfälle Fahrräder beteiligt sind. Dazu führt er, im Zusammenhang mit den Fahrradkennzeichen, unter anderem aus:
«Was nun noch die Radfahrer anbelangt, so mögen Ihnen die folgenden Ausführungen darlegen, welche Massnahmen zum Schutze der Verkehrssicherheit ohne Gesetzesrevision getroffen werden können und welche die Abänderung des Gesetzes bedingen. Ohne Revision ist es möglich, das kantonale Kontrollzeichen nur abzugeben, wenn festgestellt worden ist, dass die hintere Beleuchtungsvorrichtung des Fahrrads den Vorschriften entspricht. Im Kreisschreiben vom 16. Dezember 1935 hat unser Departement den Kantonen nahegelegt, die Radfahrer auf die Nützlichkeit der weissen Bemalung des hinteren Kotflügels oder der hinteren Gabel aufmerksam zu machen. – Die Wiedereinführung des nummerierten Kontrollzeichens bedingt eine Gesetzesrevision. Ich bin mit Ihnen einig, dass man es haben sollte, obschon ich mich frage, ob es einen wesentlichen Einfluss auf die Verkehrssicherheit haben kann. Sicher würde es für die Identifikation der Radfahrer von grossem Nutzen sein. Nun habe ich aber den bestimmten Eindruck, dass die Radfahrerverbände es auch jetzt nicht propagieren wollen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf hätte also alle Aussicht, verworfen zu werden.
… Anlässlich einer Gesetzesrevision wären noch folgende Ergänzungen vorzusehen: das Fahrverbot in dem Sinne, dass dem Radfahrer die Benutzung eines Fahrrads verboten werden könnte, wenn er die Verkehrssicherheit gefährdet, die obligatorische Prüfung des Fahrrads in der Weise, dass das Kontrollzeichen erst abgegeben wird, wenn das Rad allen technischen Vorschriften entspricht, die Möglichkeit des Entzugs des Kontrollzeichens.»
M. le Conseiller d’Etat Bovet aus dem Kanton Fribourg spricht über die Einführung der kleinen Nummerierung und den Widerstand des EJPD: «Une question controversée est celle de la plaque ou banderole numérotée des cycles. La loi fédérale a en quelque sorte induit les cyclistes en erreur. Ceux-ci pensaient que l’abolition du numéro impliquerait la suppression de la taxe fiscale. Or, cette taxe a été maintenue. Ainsi les cyclistes en arrivent à être les premiers à regretter la suppression du numéro. Le département fédéral de justice et police est intervenu contre le rétablissement des numéros. Un assez grand nombre de cantons ont tourné la difficulté en introduisant un petit numéro sur la plaque ou banderole. Un grand nombre de cyclistes en sont très satisfaits et ne réclament pas; ils considèrent le rétablissement du numéro comme un fait accompli.»
Regierungsrat Dr. A. Broger (Appenzell Innerrhoden): «Das nummerierte Veloschild ist in Appenzell I. Rh. seit 4 Jahren eingeführt. Auch die Rahmennummer des Fahrrads wird in die Kontrolle aufgenommen. Diese Massnahmen haben insbesondere bei Velodiebstahlen — auch bei den zahlreichen Gebrauchsdiebstahlen — sehr gute Wirkungen gezeitigt. Es wäre zu begrüssen, wenn alle Kantone gleich vorgehen wurden. Auch die Prüfung des Fahrrads wird in unserm Kanton durchgeführt. Bei der Bezahlung der Gebühr muss das Fahrrad vorgeführt werden und es wird darauf hin untersucht, ob es den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Wir vermissen aber eine gleiche Massnahme in den Nachbarkantonen.»
Regierungsrat E. Bührer (Schaffhausen): «Die jugendlichen Radfahrer insbesondere unterliegen einer Sportpsychose, die durch die Tour de Suisse genährt wird. Eine ganze Reihe von Unfällen ist auf diese Rennpsychose zurückzuführen. Es müssen drakonische Massnahmen getroffen werden. Der Kanton Schaffhausen wird für die Fahrräder ebenfalls eine kleine Nummer einführen. Heute ist die Stellung der Radfahrer zur Nummer ganz anders als früher. Den Entzug des Rechts, das Fahrrad zu benutzen, haben wir praktisch schon dadurch erreicht, dass der Erlass die Busse in Aussicht gestellt wird, wenn die Deponierung des Fahrrads erfolgt.»
Abschliessend nimmt der Referent, Dr. Rothmund zu den Beiträgen der kantonalen Direktoren Stellung: «Bald alle Kantone werden nun eine kleine Nummer auf den Schildern oder Banderolen der Fahrräder haben. Es ist aber eben doch etwas anderes als die grosse Nummer, die schon beim Vorbeifahren abgelesen werden kann. Die Radfahrerverbände haben bis in die letzte Zeit immer auch gegen die Einführung dieser kleinen Nummern reklamiert, so zuletzt gegen deren Einführung im Kanton Basel-Landschaft. Wir haben den Kantonen formell immer Unrecht geben müssen. In der letzten Zeit sind wir allerdings nicht mehr vorstellig geworden in der Meinung, dass die Angelegenheit mit den Radfahrerverbanden einmal konferenziell besprochen werden sollte. Unserer Einladung zu einer solchen Besprechung ist aber bis jetzt nicht Folge gegeben worden.»
Die Feststellung «Wir haben den Kantonen formell immer Unrecht geben müssen» zeigt eindrücklich auf, wie gefangen sich das EJPD in seiner Rolle versteht. Eine Auf-Lösung dieses Dilemmas wird erst möglich werden, wenn sich das EJPD aus dieser Opferrolle selbst befreit. Fortsetzung folgt.
Das vollständige Protokoll der Konferenz finden Sie hier [DOKUMENT].
Mehr Informationen finden Sie im Schweizer Velonummern Museum: Geschichte der Schweizer Fahrradkennzeichen